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Itō Mamoru: Der diskursive Raum im digitalen Zeitalter (Übersetzung)

Übersetzung von 伊藤守:デジタルメディア時代における言論空間, erschienen in マス・コミュニケーション研究 = Journal of Mass Communication Studies, 89, 21–43.

Published onSep 08, 2017
Itō Mamoru: Der diskursive Raum im digitalen Zeitalter (Übersetzung)

Der diskursive Raum im digitalen Zeitalter

Übersetzung von 伊藤守:デジタルメディア時代における言論空間, erschienen in マス・コミュニケーション研究 = Journal of Mass Communication Studies, 89, 21–43. Mit freundlicher Genehmigung der Herausgeber und des Autors.

1. Der dramatische Wandel der digitalen Medienumgebung

Mit Anbruch des 21. Jh. haben sich digitale Techniken[1] in einem sehr kurzen Zeitraum dramatisch gewandelt. Zwei Filme des Genies Terry Giliam, nämlich Brazilund The Zero Theorem helfen uns dabei, die gesellschaftliche Bedeutung digitaler Techniken und den mit ihnen einhergehenden Wandel des Diskursraums[2] besser zu verstehen. Brazil stammt aus dem Jahr 1985, The Zero Theorem aus dem Jahr 2013. Ein Vergleich zwischen diesen beiden Werken zeigt deutlich (垣間見える), wie sich im Laufe der letzten 30 Jahre die Beziehung zwischen verschiedenen Faktoren wie digitale Technik, gesellschaftliche Kontrolle, Markt und Kapital, Verlangen bzw. Bewusstsein und menschliche Gefühle, verändert hat.

„Brazil“ beginnt mit einer Szene, in der ein Restaurant Ziel eines terroristischen Anschlags wird. Selbst eine Gesellschaft, die unter Einsatz der ersten Großrechner und mittels einer umfangreichen Sammlung und Aufbereitung von Daten über die Bevölkerung eine umfassende Verwaltung anstrebt, kann Verbrechen und Terror nicht beseitigen. Trotz der stetig genaueren Verwaltung der Bevölkerung durch das Informationsministerium gibt es doch immer wieder Widerstand und Auflehnung. Das scheint der Film durch die Eingangsszene der Explosion unterstreichen zu wollen. Er thematisiert also gewissermaßen die Risse in Verwaltung und Überwachungstechnologien. Aufgrund eines kleinen Fehlers bei der Dateneingabe wird ein Bürger für einen Terroristen gehalten. Er wird festgenommen und im Gefängnis ermordet. In der Handlung des Films geht der Protagonist diesem Unrecht auf den Grund. Gleichzeitig weist diese Erzählung auf die Risse und Unvollkommenheiten der Überwachung an, die aufgrund von Fehlern in der Datenverwaltung entstehen. Der eigentlich für das Informationsministerium tätige Protagonist, der plötzlich einem Staatsverbrechen auf die Spur kommt, wird am Ende verhaftet. Die letzte Szene, in der er mithilfe von Technik mental kastriert wird, zeigt auch, wie Risse und Unvollkommenheit totale Unterdrückung und Grausamkeit hervorbringen.1

„The Zero Theorem“ steht dazu in scharfem Kontrast. Qohen, der Protagonist des Films, der wie der 30 Jahre ältere, geistig kastrierte Protagonist aus Brazil wirkt, tritt als exzellenter Computeringenieur auf. Zugleich ist er jedoch zum Teil empfindungs- und gefühllos. Es mangelt ihm außerdem an Sozialkompetenz. Er lebt und arbeitet in der Ruine einer Kirche, die er für gewöhnlich nicht verlässt (der Umstand, dass in einer Kirche, die für Schutz bzw. „Sorge“ (care) steht, Überwachungskameras installiert sind, symbolisiert das Möbiusband von „Überwachung“ und „Sorge“, auf das Lyon (2007) bereits hinweist). Als er der Aufforderung nachgeht, in seiner Firma zu erscheinen, und nach langer Zeit einmal wieder sein Zuhause verlässt, erwartet ihn eine farbenprächtige Stadt. Auf den überall angebrachten Bildschirmen und digitalen Werbebannern wird die Erfüllung aller Wünsche und Sehnsüchte versprochen, und eine elektronische Stimme heizt die ungezügelte Stimmung in der Stadt an. Hinter den Schriftzügen und der Stimme steckt das IT-Unternehmen, für das Qohen arbeitet. Dieses erforscht und erfüllt jedwede Bedürfnisse des Menschen, ob in Bezug auf Gesundheit, Umwelt, Versicherung, oder Sexualität, und ist damit zu einem riesigen Unternehmen herangewachsen. Im Kontrast zur von Terroranschlägen gezeichneten Kontrollgesellschaft aus dem 30 Jahre älteren Film, scheint uns die erste karikatureske Szene des Films sagen zu wollen, dass wir es hier mit einer Gesellschaft des fortwährenden Glückszustandes zu tun haben, in der jegliche Bedürfnisse und Begierden erfüllt werden, solange sie im Rahmen der Regeln und Normen liegen.

Der frühere Film steht im Zeichen von Foucaults Begriffs der „Disziplinargesellschaft“, der spätere im Zeichen der Deleuze’schen „Kontrollgesellschaft“. Diese Lesart ist jedoch ungenau. Denn auch in Zero Theoremsind Verbotsschilder, die auf eine umfassende Überwachung und Disziplinierung der Gesellschaft hindeuten, allgegenwärtig. Wir haben es also nicht schlicht mit einem Übergang von der Disziplinar- in die Kontrollgesellschaft zu tun. Vielmehr drücken diese beiden Filme auf herausragende Weise den gesellschaftlichen Wandel der letzten 30 Jahre aus, den „Ausgangspunkt“ und das „Heute“ der Kontrollgesellschaft. Eine ähnliche Einordnung in Bezug auf die Disziplinargesellschaft unternimmt auch Deleuze in seiner ersten Beschreibung der Kontrollgesellschaft selbst. Er weist darauf hin, dass die Disziplinargesellschaft weiterhin fortbesteht, unsere Gesellschaft aber dabei ist, diese hinter sich zu lassen und bereits mit einem Fuß in die Kontrollgesellschaft übergetreten ist (DELEUZE 1990 – 2007, 358).

Brazil malt das Bild einer auf Unterschrift und Identifikationsnummer basierenden „emanzipierten, pausenlose Kontrolle“ (解放系における休みなきコントロールの形態) gezeichnet. Zero Theorem entwickelt dieses Bild weiter. Es zeigt eine auf einem weit fortgeschrittenen System digitaler Datenkommunikation basierende Welt, in der die Angestellten in offenen, caféähnlichen Büros spielerisch mit Computertechnik umgehen und Datenanalysen durchführen. Auch auf Partys wird immerfort mit einem mobilen Gerät in der Hand kommuniziert, und die Verbindung des Gehirns mit dem Computer macht sogar gelegentliche Ausflüge in erotische Phantasiewelten möglich. Gleichzeitig konfrontiert uns der Film mittels des ohne Pause und Schlaf fieberhaft nach dem „Zero Theorem“ suchenden Qohen auch mit einem Zustand, den auch Crary (2013=2015) beschreibt. Ihm zufolge intervenieren digitale Techniken mittlerweile sogar in grundlegende, lebenserhaltende körperliche Funktionen wie Schlaf. Der Film bieten einen Einblick in eine solche Welt, in welcher digitale Techniken in engem Zusammenspiel mit den Neurowissenschaften zur Justierung verschiedener Parameter eingesetzt werden, wodurch Träume, Schlaf, Imagination, mit anderen Worten unsere körperlichen und geistigen Aktivitäten, abgeändert werden können. Hier verschwimmen die zeitlichen Grenzen zwischen Arbeit, Freizeit, Schlaf und Unterhaltung. Außerdem macht der Film auch den Charakter der heutigen Situation eindrucksvoll deutlich, in der, wie Mizushima feststellt, „die ‚Unterschrift’ (und das Papier, auf dem sie niedergeschrieben ist), die eine feste Identität garantierte, durch „Passwörter“ (und die Computer, in die sie eingegeben werden) ersetzt wird, mithilfe derer der unterschiedliche Zugang kontrolliert wird. Dadurch kommt in der globalen Kontrollgesellschaft eine zerstreuende Atomisierung (個体化の分散的な様式) in Gange.“ (Mizushima Kazunori 2014:20, Übersetzung aus dem japanischen Original durch den Übersetzer dieses Textes).

Die Disziplinargesellschaft arbeitet darauf hin, „die Individualität der Zugehörigen einer Organisation in eine Form zu pressen.“ Demgegenüber wandelt sich nun alles in Richtung einer Kontrollgesellschaft. Deren Besonderheit besteht im Fluss, der Aggregation und der Analyse jedweder Daten, die einem offenen, durch große Beweglichkeit ausgezeichneten Raum entstehen, von medizinischen Behandlungsdaten, biometrischen Erkennungsinformationen, und Kreditkartenzahlungsverläufen, bis zu Verläufen des Netzzugriffs. Dazu kommt das Feedback der neuen Informationen, welche durch diese Datenaufbereitung automatisch erzeugt werden.2 Wie reagiert die digitale Medienforschung theoretisch auf diesen Wandel? Wie kann sie ihre Analyseinstrumentarien verbessern?

Die Media Studies haben bisher ihre Theoriebildung unter der Voraussetzung einer von Reproduzierbarkeitstechniken geprägten Umgebung betrieben. Um eine Gesellschaft zu begreifen, die zwischen Mensch und Umgebung ein Interface einrichtet und durch von Computern mit hoher Rechen- und Analyseleistung übertragenes Informationsfeedback die natürliche Umgebung, die gesellschaftliche Umgebung und sogar Geist und Körper des Menschen in ihren Schaltkreis eingliedert und über ein System zur Kontrolle jedweden Gegenstandes verfügt, müssen sie radikal neu denken. In diesem Text frage ich nicht so sehr nach dem Wandel des öffentlichen Diskurses (言論) innerhalb des durch Kommunikation etablierten diskursiven Raums (言論空間), sondern danach, wie sich die Konturen dieses Raumes und seine durch sie bestimmte Qualität im Umbau befinden. Dies untersuche ich mit Fokus auf das wechselseitige Arrangement von digitaler Technik und wirtschaftlichen, politischen, und kulturellen Kräften.

Im Folgenden möchte ich also die These prüfen, dass die gesellschaftliche Kommunikation und die Formierung der Konturen des Diskursraums selbst neu zusammengesetzt werden durch ein Kontrollsystem, das soweit fortgeschritten ist, dass es die Natur, die Gesellschaft und selbst Geist und Körper des Menschen durch ein auf Kybernetik basierendes Informationsfeedback in seine Schaltkreise integriert. Als nächstes werde ich darauf eingehen, dass wir das auf Bewusstsein und bewusste Handlungen beschränkte Feld der Medienforschung um vorbewusste, unterbewusste, genauer gesagt die Ebene des „Virtuellen“ und „Potentiellen“ erweitern müssen, um über die Auswirkungen und Effekte des Wandels der materiellen und gesellschaftlichen Mechanismen denken zu können, den die als Basis für den diskursiven Raum dienende Informationsverbreitung mit sich bringt. Drittens schlage ich vor, das Problem der „Zeit“ als eng mit beiden voranstehenden Zusammenhängen verknüpfte Perspektive in den Blick zu nehmen. Dies bedeutet auch, die „Erfahrung“ des Menschen von Grund auf zu überdenken.

Um den Wandel des diskursiven Raums zu problematisieren, ist über die Diskussion dieses Wandels selbst hinaus auf den Wandel der Mechanismen zu achten, die diesen Raum errichtet. Ferner muss der theoretische Rahmen, in dem bislang der diskursive Raum verhandelt wurde, radikal erneuert werden. Diese radikale Erneuerung geschieht natürlich nicht auf einen Schlag, sondern sie kann nur schrittweise erfolgen. Im Bewusstsein dessen versuche ich nachfolgend eine hypothetische Skizze zu zeichnen, um einen oder vielleicht nur einen halben Schritt weiterzukommen.

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[1] Anm. d. Übersetzers: Im Original wird der Anglizismus „Technologien“ (テクノロジー) verwendet. Da dieser aber im Deutschen nicht nur auf Technik selbst, sondern auch auf Technikvorstellungen verweist, verwende ich im Folgenden „Technik“.

[2] Der im Originaltext gewählte Ausdruck „言論空間“ verbindet den Begriff Diskurs oder auch Meinungsaustausch, wie er etwa im Kontext der Meinungsfreiheit Verwendung findet, mit dem Begriff des Raumes. Um die vom Autor beabsichtigte Unterscheidung vom Begriff der „Öffentlichkeit“ (jap. 公共圏) zu verdeutlichen, wird im folgenden „Diskursraum“ verwendet.

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